Vampir-Horror-Roman Nr. 284: Die phantastische Nacht

Vampir-Horror-Roman Nr. 284: Die phantastische Nacht


Die Stimmung war gereizt. Nach mehr als einer Woche gemeinsamer Autofahrt gingen sich Marcel Valéry und Fernand Taillot gründlich auf die Nerven. Ansonsten kamen der etwas exzentrische Regisseur Valéry und der empfindsame Drehbuchautor Taillot gut miteinander aus. Selbst die schwerwiegendsten Meinungsverschiedenheiten hatten sie immer wieder bereinigt, wenn es um die künstlerische Arbeit ging. Was den Fahrstil anbetraf, gab es allerdings unüberbrückbare Gegensätze. "Willst du uns ‚mit Gewalt umbringen, du Narr?" schrie Marcel, als Fernand die Serpentinen am Plomb du Cantal wie ein übergeschnappter Rennfahrer nahm. "Wir haben doch Zeit! Ob wir nun zehn Minuten früher oder später an Ort und Stelle sind, spielt doch überhaupt keine Rolle. Hauptsache, wir kommen lebendig hin." "Das kommen wir auch so", versicherte Fernand, ohne das Tempo zu verringern. "Mach dir keine Sorgen, es passiert schon nichts. Schau lieber in deine Karte, denn es muß bald eine Abzweigung kommen. Wir dürfen nicht ganz bis zur Passhöhe hinauf - irgendwo muß es links abgehen. Das habe ich vorhin gesehen, als ich die Karte studierte." "Dann fahr nicht so idiotisch, denn wenn ich pausenlos von einer Seite auf die andere geschleudert werde, kann ich nicht in die Karte schauen:" Fernand verlangsamte unwillig die Geschwindigkeit. Für ihn war Marcels Argument lediglich eine Ausrede. Marcel wollte damit nur erreichen, daß Fernand langsamer fuhr, weil er es mit der Angst zu tun bekam. Fernand drosselte die Fahrt ostentativ bis fast zum Schritttempo, schlich Um die nächsten Kurven wie eine fußkranke Schnecke und schaute dabei provozierend zu seinem Freund hinüber, der offenbar mit der Karte nicht zurechtkam.


von Georges Gauthier, erschienen 1978, Titelbild: N. Lutohin